Sonntag, 11. Januar 2015

Alexius Schneider




Menschen in Baden-Baden, heute:

Alexius Schneider





Baden-Baden, an einem Nachmittag unter der Woche, 14 Uhr. Gedämpftes Stimmengemurmel, leises Klirren von Besteck und Teetassen. Kellnerinnen und Kellner jonglieren freundlich lächelnd ihre Tabletts durch die Tischreihen. Die Plätze sind gut besetzt. "Man" trifft sich eben gern im "Café König".

"Wenn du Spaß daran hast, den Alltag der Baden-Badener Gesellschaft zu beobachten, geh einfach rüber ins "Café König" - es ist nur ein Katzensprung. Hier kannst du erleben, wie ein russischer Gast sein Stück Schwarzwälder Kirschtorte und eine Tasse Milchkaffee mit einem 500-Euro-Schein bezahlt und die Kellnerin ungerührt herausgibt. Das "Café König" ist ein herrlich altmodischer Ort und eines der besten Cafés in Deutschland.
Jeden Tag ab halb drei servieren die dezent uniformierten Bedienungen den Afternoon-Tea, ein Erlebnis, wie du es auch in London nicht besser haben könntest. Immer hängt ein Hauch teurer Parfums in der Luft. Geräuschlos gleiten die Servierdamen über den roten Teppich und tragen auf. Dabei siehst du viel goldbehangene Eleganz, natürlich nichts Auffälliges, und hörst ein paar amerikanischen Touristen beim Schwelgen zu"... so beschreibt das Manager-Magazin 2010 diesen Ort des Wohlbehagens in seinem Artikel "Baden-Baden: Reich, schön, russisch" => KLICK

Ein Spiel mit Vorurteilen...

Aber tatsächlich. Am Nachbartisch lassen sich nach und nach vier, fünf elegante ältere Damen zum Tee nieder, sie geben ein Bild ab, als wollten sie alle Vorurteile zum Thema "betuchte Senioren in Baden-Baden" erfüllen. Wobei wir beim Thema wären.

Mein Gesprächspartner zwinkert noch kurz vergnügt, während er zu ihnen hinüberschielt. "Ich bringe meine Kunden gern hierher", sagt er mit seiner unverkennbar sonoren Stimme. "Das ist doch das tollste Café der Stadt." Dann wird er ernst. Denn Alexius Schneider, selber gebürtiger Russe, ist zu einem Kampf angetreten: Dem Kampf gegen Stereotype und Vorurteile. Dafür ist er im Frühjahr letzten Jahres für die Partei "Einheit" in den Kommunalwahlkampf gezogen, dafür engagierte er sich im Herbst an der Seite der Stadt bei den "interkulturellen Wochen", dafür will er demnächst einen eigenen Verein gründen.


Hier ein Beitrag von goodnews4 über den Kommunalwahlkampf von Alexius Schneider => KLICK



Für einen Einzug ins Stadtparlament hat es nicht gereicht. Alexius Schneider hebt die Schultern. "Es ist schwer, nur zu viert Wahlkampf zu machen", versucht er zu erklären. Noch dazu hätten die Wähler, die sie im Auge gehabt hatten, große Skepsis gezeigt: "Das geht doch gar nicht", hatten sie ihm mitgeteilt. "Die lassen euch niemals zur Wahl zu". Oder: "Wir dürfen doch gar nicht wählen." Alles Vorurteile, die er gerne gleich eingerissen hätte.

Aber eigentlich muss er sich ja ein bisschen an die eigene Nase fassen, denn auch für sein politisches Engagement hatte es eines Anstoßes bedurft. In Gesprächen mit seinen Geschäftskunden aus dem russisch-sprachigen Raum sei es immer wieder um Stereotype gegangen. Russische Investoren fühlten sich diskriminiert, Deutsche wiederum wetterten gegen "die Russen" und die heruntergelassenen Rollläden in den von ihnen gekauften Immobilien. Immer wieder wurde also im Freundeskreis und mit Gästen und Kunden über Politik geschimpft, bis einer sagte: "Dann macht doch was dagegen!"

Ein Weckruf für Schneider und drei seiner Freunde. Schnell war eine passende Bundespartei, "Einheit", gefunden, für die sie antreten wollten, binnen zwei Wochen hatten sie die erforderlichen Unterschriften für die Zulassung beisammen. Ein Ergebnis, das sie stolz machte. Aber es zeigte sich, dass vier Kandidaten zu wenig sind, um aus dem Stand binnen kürzester Zeit die erforderlichen Stimmen für den Einzug in den Gemeinderat zu sammeln.

Aufgeben wird Alexius Schneider nicht, auch wenn er inzwischen aus der Partei ausgetreten ist. Den Grundgedanken, sich gegen Vorurteile zu engagieren, verliert er nicht aus den Augen.

Denn schon als Kind hatte er am eigenen Leib gespürt, was es heißt, wegen seiner Herkunft gehänselt und gemobbt zu werden, sogar in seiner Heimat, Naltschik, einer Großstadt in der russischen Republik Kabarolino-Balkarien.

Wikipedia gibt nicht viel her, wenn man Naltschik sucht => KLICK

Hier ein Bericht der FAZ zu den Unruhen 2005 "Der Krieg kommt nach Naltschik" => KLICK

Auch zehn Jahre vor diesen Unruhen war Naltschik kein Paradies. "Es gab Komplikationen", fasst es Alexius Schneider eher wortkarg zusammen. Anlass für seine Mutter, eine Deutschrussin, und ihre Eltern, die Koffer zu packen und mit dem damals 16jährigen nach Deutschland umzusiedeln.

Für den Jungen begann eine Zeit der Widersprüche. Einerseits war er es "zuhause" leid gewesen, als Deutschstämmiger - obwohl er selber kein Wort Deutsch sprach - gehänselt zu werden, andererseits war er ein guter Schüler, der schon in der elften Klasse in einem Vorbereitungskurs der Uni eingetragen war und in Mathematik und Wirtschaft bereits von Uni-Professoren unterrichtet bekam. Andererseits war die kleine Familie - der Vater war schon früh gestorben - euphorisch, als es nach Deutschland ging. Auffanglager in Rastatt, Umzug in eine kleine Wohnung, Aufnahme in eine Förderklasse für junge Umsiedler im Gymnasium der Klosterschule zum Heiligen Grab in Baden-Baden. Der junge Alexius, der den griffigeren Mädchennamen seiner Mutter annahm, um es leichter zu haben, stürzte sich mit Begeisterung ins Erlernen der neuen Sprache. "Bildung ist wichtig", stand für ihn immer fest.

Doch die anfängliche Begeisterung für die neue Heimat wich schnell der Ernüchterung. Die alten Freunde fehlten ihm, die Umgebung war ihm fremd, die andere Lebensart und die fremde Sprache machten ihm zu schaffen. Das gipfelte in einem Abkommen mit der Mutter: Erst sollte er einen Schulabschluss machen, und wenn es ihm danach immer noch nicht in Deutschland gefiel, würden sie zurückkehren.

Doch dazu kam es nicht, denn der Junge biss sich durch. Schon bald wechselte er in den regulären Unterricht, machte im Jahr 2000 das Abitur, gründete mit einem Freund zusammen seine erste Firma und begann in Karlsruhe das Studium der Wirtschaftsinformatik. Zu dem Zeitpunkt gab es keinen Gedanken mehr an Rückkehr, die Lebensart war ihm vertraut geworden. "Ich habe mich hier gefunden", sagt er nachdenklich.





Die Zeiten waren gut für gebildete, erfolgshungrige junge Männer. Zusammen mit seinem Freund entwickelte er neben dem Studium Software für Datenbanken und Spracherkennung, es sprach sich herum, dass die beiden gut waren. Aber auch ihre Wurzeln machten sich bemerkbar, immer mehr russische Kunden wollten mehr als nur Software, bald holte er seine Kunden in Frankfurt am Flughafen ab, unterstützte sie bei ihren Geschäften in und um Baden-Baden. Ein Modell, das sich bis heute bewährt hat.

Spürt er da nicht neuerdings schmerzlich das Fernbleiben seiner russisch-sprachigen Klientel in Zeiten der Krim-Krise und des Rubelverfalls? Alexius Schneider nickt. "Ich merke, dass weniger neue Kunden kommen", gibt er zu. Seine Stammkunden allerdings sind stabil, persönlich habe er keine Sorgen, aber er hört viele Klagen in der Stadt, gerade von Geschäftsleuten, die nur dieses eine Standbein haben. Für ihn trifft das nicht zu. Längst hat er den Spieß umgedreht und fungiert auch in Russland als eine Art Projektmanager für diagnostische Kliniken, die ihre Versorgung - sei es in der Verwaltung, bei Ärzten oder Krankenpflegern - mit westlichem, sprich deutschem Knowhow verbessern wollen.

Zweimal im Jahr allerdings tauscht er die Welt der Geschäfte gegen die Welt der Musik und des Spitzentanzes: Im Sommer und im Winter, wenn die Mariinsky-Gastspiele nach Baden-Baden kommen. Seit Anbeginn der Verbindung der "altehrwürdigen Compagnie" mit dem Festspielhaus, also seit 1998, ist er dabei, denn der Zufall wollte es so, dass er an der richtigen Stelle war, als für dieses Vorhaben ein Dolmetscher gesucht wurde.

Hier ein Beitrag von szenik.eu => KLICK


mit folgendem Bonus-Ausschnitt:




Dazu auch ein etwas älterer, aber anschaulicher Beitrag von "act live" => KLICK
und ebenfalls ein älterer Beitrag von na- news aktuell => KLICK

Seitdem ist Alexius Schneider, wenn die Künstler aus St. Petersburg zweimal im Jahr anrücken, Dolmetscher, Seelentröster, Anlaufstelle für große und kleine Probleme, die es geben kann, wenn ein Tross von 250 Menschen untergebracht und betreut werden will. Da kontrolliert Alexius Schneider im Vorfeld, ob die Lastwagen alles mitgebracht haben, was benötigt wurde, er erledigt die Zollformalitäten, kontrolliert Dokumente, telefoniert, organisiert. Da bringt er auch schon mal die Tänzer und Ballerinen nach Karlsruhe, wo es angeblich die besten Ballettschuhe, Schläppchen, zu kaufen gibt, da kümmert er sich um feuerpolizeiliche Anforderungen, um Arbeitsschutz, und auch um Tänzer, wenn sie sich mit heißem Teewasser verbrühen oder sich bei Stürzen Knochenbrüche oder Kreuzbandrisse zuziehen und ins Krankenhaus gefahren müssen. Wenn er vom aufregenden Durcheinander im Dunklen hinter der Bühne erzählt, von Hektik beim Wechsel der Dekorationen oder beim schnellen Reichen der richtigen Requisiten, dann kann man ihn sich schon als ruhenden Pol im Durcheinander vorstellen. Bestimmt hat er bei den Aufführungen immer den besten Platz? "Ja", lacht er, "den allerbesten: hinter der Bühne".

Viele Freundschaften haben sich im Laufe der Zeit dadurch ergeben, und vermutlich hat der überzeugte Lokalpatriot allen seine Lieblingsplätze in Baden-Baden gezeigt: Die Lichtentaler Allee vor allem, aber auch die stillen Weinberge von Varnhalt und Neuweier, und bestimmt hat er seinen Freunden und Kunden auch seine zweite große Leidenschaft nahegebracht: Die badische Küche. Rehrücken, Hirschgulasch und Schwarzwaldforelle - das ist für ihn Genuss pur. Genauso liebt er aber auch das große Tafeln mit Freunden und Verwandten zuhause, wenn nach russischer Art alle Speisen auf einmal auf den Tisch kommen, mayonaisehaltige Salate, Kartoffeln, Grillspieße, Schweinebraten... und wenn der Wodka fließt.

"Aber wir trinken nicht ständig Wodka", beeilt er sich sofort, aufkeimendes Vorurteil auszuräumen. Wo wir wieder bei seinem Anliegen wären: Der Vermeidung von Stereotypen und Klischees. Sein Wunsch: "Wenn wir mal wieder denken, der ist so oder so - dann sollten wir innehalten und uns kritisch fragen: Ist das wirklich so oder kann es auch anders sein?" Nur dann seien die Menschen bereit, Grenzen in ihren Köpfen abzubauen und mehr Verständnis für ihre Mitbürger aufzubringen.





Weitere "Sonntagsgeschichten" über Menschen in Baden-Baden finden Sie hier => KLICK