Sonntag, 19. April 2015

Leon Meyer-Vogelfänger



Menschen in Baden-Baden, heute:

Leon Meyer-Vogelfänger


Er ist ein Mann, der nur schlecht in wenige Worte zu fassen ist. Ein Mann, ständig in Bewegung - physisch und geistig. Ein Mann des Wortes, der Kultur, der Wirtschaft und des offenen Geistes. Ein liebenswürdiger, kluger Kopf, der seinen Humor nicht verloren hat – trotz allem, was ihm im Laufe seiner 70 Jahre widerfahren ist. Ein geistreicher Plauderer und Genießer. Ein Mann, der die Wendungen des Lebens erfahren und aus ihnen gelernt hat. Ein freundlicher Herr, der sich gern in stille Winkel dieser Stadt zurückzieht, um hochgeistige Bücher zu lesen, ein Mann aber auch, der belebenden Plaudereien nicht aus dem Weg geht. „Herrengespräche“ nennt er sie nachsichtig, und man merkt ihm an, dass er sie ebenso genießt wie ein schönes Glas Wein.




So habe ich Leon Meyer-Vogelfänger in den vergangenen Monaten kennengelernt. Oft saßen wir im kleinen Olivenhaus in der Kreuzstraße zusammen, hierhin wird uns auch der Weg am Ende dieser heutigen Sonntagsgeschichte führen.

Aber zunächst wollen wir mit dem Anfang beginnen, dem Start ins Leben, der nicht dramatischer und prägender hätte verlaufen können: „Meine Mutter brachte mich im Juli 1944 im Elsass zu Welt, mitten im Bombenhagel und während eines Angriffs algerischer Soldaten.“ Was folgte, war eigentlich Kriegsschicksal: „Die Familie wurde auseinandergerissen“, heißt es so schlicht in seinem Lebenslauf. Aber was bedeutete das für den kleinen Leon Vogelfänger genau? Die Mutter musste das Neugeborene im Nothospiz zurücklassen und floh mit ihren Eltern zurück in die Trümmerwüste von Köln. Ein Name und eine Stadt - mehr blieb vorerst nicht als Familienwurzel übrig für den Säugling, der ein Jahr später in einem Kriegswaisenhaus im Schwarzwald landete. Kurz vor dem Hungertod entdeckte ihn dort die Wein- und Schnapshändlerfamilie Meyer, nahm ihn erst als Pflegekind auf, und bei Schuleintritt adoptierten sie ihn, ohne Einverständnis der leiblichen Mutter. Erst mit 18 Jahren erfuhr er von ihrer Existenz, machte sich auf die Suche nach ihr, scheiterte jedoch.

Zu der Zeit hatte er seinen bewegten Lebensweg schon aufgenommen. „Ich war kein guter Schüler“, gibt er freimütig zu, also kam er bei einem Buchbinder in die Lehre. Ein Glücksfall, denn auf diese Weise entdeckte er die Welt der Bücher, die Liebe zur Literatur. An das legendäre Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“ des deutschen Journalisten Kurt Wilhelm Marek alias C.W. Ceram erinnert er sich besonders gut, immerhin war das Binden einer alten Ausgabe sein Gesellenstück. Die Arbeit machte ihm Spaß, aber sie brachte leider kein Geld. „Alle meine Freunde besaßen schon ein Motorrad, nur ich nicht“, stellte er eines Tages fest und drückte daraufhin erneut die Schulbank, diesmal auf einem Aufbaugymnasium in Konstanz. Wieder eine prägende Zeit. „Ich fühle mich immer noch als halber Seehase“, schmunzelt er heute. Logisch, denn verbrachte eine geraume Zeit am Bodensee, volontierte beim Südkurier, heiratete dort zum ersten Mal.

Aber schon ging es weiter, nach München, zum Studium der Kunsterziehung. Und das während der „wilden 68er“! Die hinterließen auch in seinem Werdegang Spuren: Mitgliedschaft im SDS, Zugang zur Kulturszene der damaligen Jungen Wilden, über die er für Süddeutsche Zeitung, Donaukurier und Augsbuger Allgemeine Zeitung exklusive Rezensionen verfasste. Das wiederum band ihn noch enger an Künstler wie Michael Krüger, Arnulf Rainer, Achternbusch oder dem Filmemacher Erwin Leiser.




Doch genügte dem hungrigen Geist die Einseitigkeit nicht, er ging nach Münster und studierte Politikwissenschaft. Erst danach ließ er sich als Kulturredakteur und Mitglied der Chefredaktion beim Donaukurier in Ingolstadt fest anstellen - für wenige Jahre nur, dann zog es ihn weiter hinaus in die Welt: ein zweijähriges Stipendiat führte ihn ans Museo Arte Moderno nach Mexiko. Der Weg in die Kunstwelt war damit klar, und ab 1978 beriet er das Haus Preußen beim Ankauf moderner Kunst der 60er und 70er Jahre, auch an der Gestaltung der Documenta 5 war er mit beteiligt.

Und nun kommt Baden-Baden ins Spiel, genauer gesagt der Anruf der damaligen Leiterin der Bäder- und Kurverwaltung, was 1988 in Zusammenarbeit mit der schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia in den ersten Kunstfilmwochen in Baden-Baden mündete und der Stadt einen neuen Einwohner zuführte: Leon Meyer-Vogelfänger blieb in der Stadt hängen, verlor sein Herz, heiratete zum zweiten Mal, wurde Vater zweier Töchter.

Diese neue Verantwortung für seine kleine Familie ließ ihn erkennen, es nun an der Zeit war, Geld zu verdienen. Also wechselte er von der Kunst in die Wirtschaft. Für die Wirtschaftswoche interviewte er die großen Unternehmer des Landes, was ihn schnell weiterbrachte: Er trat in die Geschäftsführung des Instituts für Mittelstandsförderung und der Gesellschaft für Betriebsklimauntersuchung in Münster bei, wurde Gründungsmitglied einer Fortbildungsakademie zur Förderung der Partnerschaft in der Wirtschaft. Themen, die ihn auch heute noch umtreiben.

Die „Wende“ im Osten jedoch ließ ihn einen schmerzlichen, steinigen Umweg nehmen, führte ihn nach Leipzig in intellektuelle Zirkel. Alsbald organisierte er die ersten freien Wahlen in Sachsen Anhalt und avancierte vorübergehend zum Kultusstaatsekretär in der Staatskanzlei. Danach zog es ihn zurück in die Wirtschaft, als Geschäftsführer der ARGE Geoprofil in Bitterfeld setzte er sich für die Erhaltung von Zeitzeugen ein.

Dann der Absturz: die Firma wurde aus politischen Gründen liquidiert und Leon Meyer-Vogelfänger verlor sein ganzes Geld. Viel Geld. Sehr viel Geld. Und es ging, wie oft in solchen Fällen, gleich noch tiefer bergab: Scheidung. Und ja – auch zu viel Alkohol, wie er freimütig einräumt.

Alles war weg“, sagt er rückblickend, und man merkt ihm an, wie tief die Niederlage sitzt. „Ich habe oft gedacht, ich kann nicht mehr.“ 




 
Schneckenhaus. Sozialhilfe. Einsamkeit, und immer noch Alkohol. Aber dieser Mann ist nicht dafür geschaffen, im Tief sitzenzubleiben. Sein Netzwerk, das er sich über all die Jahre aufgebaut hatte, war fest, es riss nicht.

Vor allem die Kinder waren ihm eine große Hilfe, aber auch die Freunde hielten zu ihm, stabilisierten ihn. Einfach war es nicht: Die Lebensbilanz ist, wenn einem so etwas weit jenseits der 50 passiert, verheerend.

Fünf lange Jahre saß er unten. „Eine Katastrophe.“ Dann ging es schleichend heraus aus dem Loch. Eine Familienaufstellung, zu der ihm ein Freund geraten hatte, wurde zum Wendepunkt. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, merkte er, und er begab sich noch einmal auf die Suche nach leiblichen Verwandten. In einer Telefonzelle mitten in Köln suchte er den Namen Vogelfänger heraus, erklärte der Frau, die abhob, wer er sei und wen er suche, bis die Frau ihn irgendwann unterbrach und sagte: „Du bist mein Sohn!“ Stundenlang habe er sodann am Rheinufer gesessen und geweint, erinnert er sich, und er ist dankbar, dass auch seine Kinder tatsächlich noch ihre leibliche Großmutter kennenlernen durften.

Seitdem ist er wieder da und strickt weiter an Netzwerken, verknüpft, was für ihn schon immer zusammengehört: Wirtschaft, Politik und Kunst. „Es reicht nicht, wenn sich ein Unternehmen ein Bild ins Vorstandsbüro hängt“, sagt er. Man müssen beginnen, voneinander zu lernen, sich an die unterschiedlichen Sichtweisen herantasten und sich voneinander inspirieren lassen.

Und so hat er seine Träume wiedergefunden und arbeitet nun unermüdlich an deren Verwirklichung: Er will einflussreiche Menschen aus Wirtschaft und Politik mit Wissenschaftlern, Querdenkern und Künstlern zusammenbringen, dafür hat er sich verschiedenen Projekten angeschlossen, er plant Symposien – ach – es ist viel zu viel, um alles aufzuschreiben, was dieser kluge Kopf vorhat und umsetzt.

Er ist beweglich, in jedem Sinne. Reist viel, nach Berlin hauptsächlich, aber auch an den Bodensee oder per Bahn in die Pfalz, zu einer Weinbruderschaft, bei der neuerdings Mitglied ist. Viel Zeit bringt er also auf für seine „Herrengespräche“, wie er die Teilnahme an den vielen Zirkeln nennt, in denen seine Meinung, sein Wissen und sein Humor gefragt sind.

Warum macht er das, mit 70? Was treibt ihn an?

Als habe er auf diese Frage gewartet oder sie sich selbst schon oft gestellt, kommt die Antwort schlicht und wie eine Selbstverständlichkeit: "Ich will trotz meines desolaten Lebens meinen Kindern ein Vorbild sein." 

Und die Entspannung?

Die findet er beim Wandern, vielleicht bald wieder beim Fischen und ja, auch ein Segeltörn darf es mal sein. „Es muss aber nicht mehr unbedingt ein Sturm auf hoher See sein“, merkt er an - und das ist gewiss doppelbödig zu verstehen.




Ein ganz neues Steckenpferd ist ihm die Errichtung eines kleinen Literaturcafés. Die Örtlichkeit war schnell gefunden, das winzige Olivenhaus in der Kreuzstraße, in dem er regelmäßiger Gast ist und wo er sich gern von der Wirtin Olivia Pallas bekochen lässt.





Nächsten Samstag ist es wieder so weit, Zeit für eine neue Lesung mit überarbeitetem Konzept. Diesmal hat er Otto Jägersberg gewinnen können, eine kluge Wahl. Denn gibt es eine bessere Verbindung zwischen zwei Polen seines Lebens – dem Schreiben und der Kunst? Die Lesung findet am Samstag, 25. April, von 16 bis 18 Uhr statt.

Hier das Programm:





Zur Person Otto Jägersberg: 




Hier geht es zu meinem Beitrag über Olivia Pallas und ihr Olivenhaus => KLICK

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