Sonntag, 20. September 2015

Çetin Beker


Menschen in Baden-Baden, heute:
Çetin Beker


Integration – ein sperriges, abstraktes Wort, das zurzeit in aller Munde ist. Viele Menschen machen sich Sorgen, wie „Integration“ funktionieren könnte. Dabei brauchen sie eigentlich nur um die Ecke zu gehen, um Erfolgsmodelle zu erleben: Italiener, Griechen, Türken – sie alle kamen vor ein paar Jahrzehnten zu uns und gehören heute ganz selbstverständlich in unsere Gesellschaft - und das, obwohl sie es weiß Gott nicht immer leicht hatten bei uns.




Für den Nachbarn war ich der „Sohn vom Türken“, obwohl er doch ganz genau wusste, wie ich hieß“, erinnert sich Çetin Beker noch lebhaft an einen Vorfall, der ihn sehr gekränkt hatte. Auch in der Schule war er schnell völlig zu unrecht als Schuldiger ausgemacht, wenn etwas passierte. Das sei sehr demütigend gewesen, sagt er heute, vor allem, weil er damals noch nicht die Sprache beherrschte und sich nicht verteidigen konnte.

Das kann man kaum glauben, wenn man ihn heute in seinem Geschäft am Bertholdsplatz besucht. Wie ein kleiner, heimeliger Tante-Emma-Laden kommt einem seine „Game-station“ vor. Bunt gemischt wie sein Sortiment von Videospielen und gebrauchten Handys ist auch seine Kundschaft, die sich an diesem verregneten Nachmittag wie in einem Taubenschlag die Klinke in die Hand gibt.

Da ist der ältere Herr mit seinem nicht minder betagten Klapphandy, das nicht mehr so richtig funktioniert. Çetin Beker verspricht, ein anderes zu besorgen. Er kennt den Kunden, weiß, dass er Hörprobleme hat. „Ich finde etwas für Sie, ein älteres Gerät, denn die sind lauter als die smartphones“, tröstete er den Mann. „Kommen Sie Ende der Woche wieder.“ 

Zwei Halbwüchsige kramen aufgekratzt in den Regalen mit den Videospielen und entschließen sich dann doch, nur 20 Cent einzusetzen und sich aus einem altmodischen Automaten je eine Kaugummi-Kugel zu ziehen.


 

Zwei junge Burschen schleppen ein schweres Paket herbei. 32 Kilo wiege es, versichern sie ihm, denn er nimmt nur Pakete bis 40 Kilo an. Aber die Verpackung muss geändert werden. Für Çetin Beker kein Problem. Er sucht einen anderen Karton, hebt das schwere Motorenteil geduldig hoch, bis die Burschen es mit Luftpolsterfolie umwickelt haben, und sorgt für Füllmaterial.

Wieder geht die Tür. Ein kleiner Junge stürmt herein, stockt, grüßt fröhlich und bleibt etwas verlegen, aber mit erwartungsvollem Blick vor der Ladentheke stehen. Çetin Beker beugt sich vor und lächelt. „Möchtest du vielleicht einen Lutscher haben?“ Der Junge nickt – und bekommt ihn natürlich und rennt glücklich hinaus.

Schon steht der nächste Kunde da und hält sein Smartphone hoch. Çetin Beker genügt ein kurzer Blick. „Oh, sieht bös aus“, sagt er, fügt aber gleich beruhigend hinzu: „In einer Stunde ist es fertig.“ Dann verschwindet er in seine kleine Werkstatt und beginnt zu „basteln“. 



 
Ich habe schon immer gerne Sachen auseinandergenommen“, sagt Çetin Beker und lacht ein bisschen. „Manchmal habe ich sie auch wieder zusammenbekommen.“ Heute ist er „DER“ Fachmann für Smart-Phone-Reparaturen in Baden-Baden, aber bis der freundliche 43jährige sich diesen Ruf erarbeitet hatte, war es ein langer Weg.




Den Ausgang nahm seine Geschichte in einem kleinen Dorf in Anatolien, von dem aus sich sein Vater einst aufmachte und in die Millionen-Stadt Izmir zog. Ein Riesenschritt für diesen Mann, und es sollte ein noch größerer folgen: 1970 ging er nach Deutschland, 1979 ließ er seine Familie nachkommen. Eine abenteuerliche Reise von Izmir nach Varnhalt sei das gewesen, erinnert sich Çetin Beker, der damals sieben Jahre gewesen war. „Wir saßen zu acht in einem Ford Consul, zu acht – plus Gepäck.“ Bei der Passkontrolle staunten die Grenzbeamten immer wieder, wie viele Menschen in diesem Wagen saßen, aber damals ließ man solch überladene Autos noch großzügig weiterziehen. „Ich saß die ganze Fahrt über auf der Handbremse“, weiß Çetin Beker noch und schüttelt sich. Eine Qual sei das gewesen.

Auch die Ankunft in einer winzigen zwei-Zimmer-Wohnung steht ihm noch bildlich vor Augen. Und wie die Kinder sich über das deutsche Essen gewundert hatten. Brötchen - neu! Fruchtjoghurt – merkwürdig. Dann noch die anderen Geschmacksrichtungen: Zu wenig scharf, zu wenig süß. „Aber die Milchschnitte, die haben wir geliebt!“

Was folgte, war ein Alptraum: Der Siebenjährige wurde eingeschult, ohne ein Wort Deutsch zu können. Wie ein Taubstummer sei er sich vorgekommen, und schnell wusste er, wie wichtig es für ihn sein würde, möglichst rasch Deutsch zu lernen. Die Aufnahme im Fußballverein half dabei übrigens herzlich wenig, „da wurde Fußball gespielt und nicht viel geredet.“ 


Sozialarbeit, wie sie sein sollte 


Er hatte Glück. Zwei Sozialarbeiterinnen der Stadt kümmerten sich um ihn. Unvergesslich ist das noch heute für ihn, selbst ihre Namen – Angelika und Agnes – kennt er noch. Die beiden holten ihn von zuhause ab, lernten mit ihm, nahmen ihn auch mit zu sich nach Hause, damit er deutsches Leben und die deutsche Küche kennenlernte. 

Es lohnte sich. Er wurde ein guter Schüler, hatte im Übergangszeugnis der Grundschule viele Einser und hoffte natürlich insgeheim auf den Wechsel zumindest in die Realschule. Doch es kam anders, die Lehrer sprachen dem "kleinen Türken" nur die Hauptschulempfehlung aus, und seine Eltern nahmen es hin, machten sich auch keine Gedanken darüber. „Meine Mutter konnte nicht lesen und schreiben, mein Vater nur sehr schlecht Deutsch, sie hätten mir in der Schule gar nicht helfen können - und was der Lehrer sagte, das galt damals für sie.“

Er selbst fand diese Zurücksetzung sehr enttäuschend und demütigend. Immerhin fand er im damaligen Rektor einen Förderer, mit dem er übrigens auch heute noch in Kontakt steht. Die Hauptschule verließ er dann auch mit einer glatten Eins, auch die Realschule war kein Problem für ihn, die Ausbildung zum Autoelektriker bei Mercedes in Gaggenau wurde verkürzt, den Abschluss machte er als bester Lehrling. 


 
Was folgte – war die nächste Ernüchterung: Ein Angebot, am Band zu arbeiten. Er konnte es nicht glauben. „Ich habe mich so angestrengt und soll jetzt ans Band?“, fragte er nach und hatte Glück: Er wurde im Unimog Kundendienst im Bereich Elektrik eingesetzt. "Eine schöne und lehrreiche Zeit“, sagt er rückblickend. Allerdings wurde ihm klar, dass er nicht 40 oder 50 Jahre lang an ein und derselben Arbeitsstelle bleiben wollte.

Als das Unimogwerk zumachte und er nach Wörth ziehen sollte, zog er daher die Reißleine und machte das, „was wohl jeder Türke einmal in seinem Leben machen will“: Er eröffnete – blind für die Risiken der Selbständigkeit – Mitte der 90er Jahre zusammen mit seiner Frau eine Dönerbude, das „Sindbad“ am Augustaplatz. Doch schnell wurde ihm klar, dass er in der Gastronomie mit ihren Arbeitszeiten bis 2 Uhr morgens nicht glücklich werden würde, zumal seine beiden Söhne geboren wurden – auf die er übrigens mit Recht sehr stolz ist. Der Älteste hat gerade Abitur gemacht und mehrere Preise eingeheimst – darunter auch den renommierten Scheffel-Preis für das beste Deutsch-Abitur. => KLICK und wird demnächst in Heidelberg Jura studieren. Das freut Çetin Beker natürlich besonders. „Gerade wir Ausländer wollen doch immer, dass es unsere Kinder besser machen!“ 


Dönerbude 


Sein eigener Weg war wesentlich steiniger. Sein Bruder übernahm die „Dönerbude“, er selbst fand eine sehr kurze Beschäftigung in einem Großbetrieb mit Schichtdienst – und verzweifelte alsbald. Die Arbeit selbst war kein Problem für ihn, aber die Zeit, die verging einfach nicht. „Ich schaute auf die Uhr, weil ich dachte, es sei bereits 21 Uhr, aber es war gerade erst 19 Uhr.“ Da wurde ihm klar, dass er wieder gehen musste: „Ich kann doch keinen Job machen, in dem die Zeit nicht vergeht und ich mich die ganze Woche auf Wochenende freue. Was ist denn das für ein Leben!“

In einer Druckerei als Leiter der Weiterverarbeitung war das Leben schon abwechslungsreicher. Dennoch holte ihn irgendwann seine große Leidenschaft ein, die Videospiele. Nein, nicht die Spiele an sich, sondern die technische Seite faszinierte ihn. Dies war die Geburtsstunde der Gamestation, die er zunächst zuhause in Neuweier im Keller betrieb. Sechs Monate später, im August 2000, eröffnete er sein eigenes Geschäft am Bertholdsplatz, und sein buntes Leben als Videospiele-Verkäufer begann. „Ich könnte ein Buch darüber schreiben“, lacht er, und es ist ihm anzumerken, dass er jetzt endlich genau „sein Ding“ gefunden hat.


Anlaufstelle


Schnell wurde sein Geschäft zur Anlaufstelle, nicht nur der Nachbarschaft, die ihn zunächst bestürmte, auch Bügeleisen und Föhn zu reparieren oder sogar Damenstrumpfhosen zu verkaufen. Bald war die Gamestation DER Treffpunkt für Jugendliche, vor allem die Nintendo-Vorführkonsole war die Attraktion. Man spielte, man teilte das Essen, es wurden – ohne wirtschaftliche Interessen - Spiele-Turniere auch außerhalb veranstaltet. „Aber alles verändert sich“, räumt Çetin Beker ein, auch er selbst kann davon ein Lied singen.

2006 eröffnete der MediaMarkt in der Cité, und damit veränderte sich das Verhalten der Konsumenten. Wenn er ein Spiel nicht vorrätig hat, waren die Kunden früher zufrieden gewesen, wenn er es ihnen über Nacht besorgte. „Heute fahren gleich weiter in die Cité“ - wenn sie das Spiel nicht gleich ganz bequem am eigenen Computer downloaden. Aber die Paketannahme und der Handy-Reparaturdienst, den er seit zwei Jahren anbietet, federn vieles ab.

Aber eine Tradition aus den Anfangsjahren der Gamestation lebt immer noch: Die Weihnachts-Pizza-Kasse, die das ganze Jahr über von ihm und seinen Kunden gefüttert und am 23. Dezember geschlachtet wird. „An Heiligabend mittags kommen alle Stammkunden und Freunde hierher, und es gibt Riesenpizzen und Getränke, und man erzählt sich Geschichten von früher.“




Hat er einen Wunsch? Er lacht leise. „Alles soll so bleiben, wie es ist. Uns geht es doch gut.“

Und wie fühlt er sich? Zwischen zwei Kulturen?

Çetin Beker verzieht das Gesicht. Wenn Leute ihn fragen, ob er im Urlaub „nach Hause“ fahre, ärgert ihn das. „Zuhause – wo ist das? Hier ist das natürlich“, sagt er mit Nachdruck. Hier habe er alles getan, um heimisch zu sein: Baum gepflanzt, Haus (im Rebland) gebaut, Wurzeln geschlagen. Kurz: „Wir sind angekommen“.

Natürlich fahre er ab und zu mit der Familie in die Türkei und besichtige antike Stätten und genieße das gute türkische Essen, aber das steht beileibe nicht jedes Jahr auf dem Programm. Denn am liebsten macht er natürlich Urlaub daheim – auf der Hornisgrinde oder mit dem Fahrrad am Bodensee. 




Wenn er an die Asylbewerber denkt, die nun neu in unsere Stadt kommen, fühlt er mit ihnen. Deshalb hat er, ohne auch nur einen Wimpernschlag lang zu zögern, für die internationale Suppenparty am Samstag, 26. September, ganz spontan ein Smart-Phone gespendet. Es wird der Hauptpreis des Deutsch-Wettbewerbs sein, den die Asylbewerber während der Veranstaltung austragen werden: Wer die meisten deutschen Wörter beherrscht, gewinnt. Als er davon hörte, war sofort klar, dass er die Aktion unterstützen wollte. Denn: Wenn einer weiß, wie wichtig Deutsch für die Integration ist, dann Çetin Beker.

Hier geht es zum Programm der Suppenparty =>KLICK


 

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