Montag, 8. Mai 2017

Hanna Thienel


Talent mit großer Leidenschaft

Hand aufs Herz: Würden Sie persönlich alles, wirklich alles, auf eine Karte setzen? Sicherheit, Familienfrieden, Zukunftsperspektive eintauschen gegen die große Leidenschaft? Nun, manchmal geschieht das unter der Rubrik „Midlifecrisis“. Aber was würden Sie sagen, wenn Ihre Tochter oder Enkelin im Abiturjahr alles hinschmeißt, um sich selbst zu verwirklichen, weil sie genau weiß, womit sie glücklich werden wird, und weil sie dieses Ziel beharrlich verfolgen will, nein – muss? Ist so etwas nun ein Zeichen von großem Mut oder von bodenlosem Leichtsinn? - Wie viele Bedenken schießen Ihnen gerade durch den Kopf?

Hanna Thienel ist so ein Mädchen – oder besser: so eine junge Frau. Oder noch besser: So eine besessene Künstlerin. Ich bin über Facebook auf sie aufmerksam geworden, wo sie regelmäßig atemberaubende Fotos postet. Portraits vor allem, die aussehen wie ein Gemälde, unwirklich schön, verfremdet, arrangiert, auf eine andere Ebene entrückt.

Sie hat für die Geschäftseröffnung einer Freundin Markenzeichen-Fotos erschaffen, wie es sie kein zweites Mal gibt. Inzwischen werden diese Fotos als Postkarten verkauft, und selbst wenn jemand sie tatsächlich in den Briefkasten wirft – spätestens der Empfänger wird sie unweigerlich aufheben, oft sogar rahmen und aufhängen.

Wir verabreden uns für unser Gespräch, ohne uns zuvor gesehen zu haben. Ein „blind date“, sozusagen.

Draußen hängt ein grauer Herbstnachmittag in den Straßen. Die Rückversicherer wuseln in dunklen Anzügen durch die Stadt. Im Café König geht alles seinen gewohnten entschleunigten Gang. Ich habe einen Platz am Fenster, bin gespannt: Werden wir uns überhaupt erkennen?

Was für eine Frage! Ein Blick nach draußen, und ich weiß: Das ist sie! Da steht sie also, mit dem Rücken zum Café – aber genauso muss eine Künstlerin aussehen.




Lange, rot-goldene Locken, helle Augen, knallroter Mund, energisches Kinn – so sitzt sie kurze Zeit später am Tisch. Selbstbewusst, aber nicht aufgesetzt, schön wie ein Gemälde, aber irgendwie auch wie aus der Zeit gefallen. Wie die Fotografien, mit denen sie derzeit viele Menschen in ihrer Heimatstadt Baden-Baden verzaubert.

Gerade mal zwanzig Jahre ist sie alt, aber sie weiß ganz genau, was sie will und was sie glücklich macht. So glücklich, dass sie alles auf diese eine Karte setzt: Fotografieren. Punkt.

Schon als Kind mit drei Jahren, so erzählt sie freimütig, habe sie alles bemalt, was ihr zwischen die Finger kam. Leere Flächen? Gab es für sie nicht. In Nullkommanichts hatte sie sie ausgemalt. Kreativität im Überfluss! Auch die Musik wurde ausprobiert. Singen, Lieder schreiben, Instrumente lernen, dies aber nur zum Spaß, „nur für mich“.
Mit acht ein erster Meilenstein: Sie erbettelt sich vom Vater dessen alte Digitalkamera, nicht besonderes, jedes Handy macht heute bessere Aufnahmen. Aber der Grundstein ist gelegt, spielerisch gleitet sie immer tiefer in ihre Leidenschaft. „Ich habe damals wirklich alles fotografiert, von der Ameise bis zum großen Landschaftsbild“, erinnert sie sich lachend, und der Vater habe sie dabei stets unterstützt, denn er verstand, was in ihr vorging, fotografierte und filmte er doch selberfür sein Leben gern – während die Mutter eher eine handwerkliche Ader hatte und sich aufs Dekorieren verlegte.

Tochter Hanna vereinte irgendwann beides. Mit 14 Jahren, um genauer zu sein. Da stöberte sie im Internet einen Fotografen auf- sein Name spielt heute keine Rolle mehr. In einer Dezembernacht war das, das weiß sie noch ganz genau. Stundenlang klickte sie sich in dieser Nacht durch dessen Fotos – und fand ihre Bestimmung. Alles, was sie bis dahin gemacht hatte, lief fortan unter Vergangenheit, „nur für mich“, Spaßfaktor.

Hier, bei Durchsicht dieser professionellen Bilder, wurde ihr klar: „Fotografieren ist mehr als nur Hobby. So will ich ab sofort arbeiten.“

Und sie wusste auch genau, WIE. Eine willige Freundin war flugs als Fotomodell zur Hand, und los ging es, raus auf ein Feld. Zwölf Stunden am Stück, wie besessen, schoss sie nun Fotos von ihrer Freundin – mit immer wechselnden Outfits, in wechselnden Positionen... „Ich war wie geflashed“, erinnert sie sich. Danach sei sie einfach nur kaputt gewesen - und selig! „Bei jedem Bild, das ich mir danach zuhause ansah, habe ich mich gefreut, ich fand unfassbar, dass ich so etwas Tolles machen konnte.“
Im Nachhinein wiegt sie eher nachsichtig den Kopf. „Wenn ich mir die Sachen heute ansehen – naja...“

Aber damals vergingen die Weihnachtsferien wie im Fieberwahn. Sie fühlte sich frei, zum ersten Mal in ihrem Leben. Ein unglaubliches Gefühl.

Nach den Ferien – die harte Landung in der Realität, das Gegenteil vom Freisein: „Alles wurde mir vorgeschrieben, ich konnte einfach nichts frei machen in der Schule.“ Nur im Kunstunterricht lebte sie auf, der hätte für sie 40 Stunden pro Woche dauern können...
Als irgendwann das Thema Selbstdarstellung auf dem Lehrplan stand, und Rembrandts Portraits mit Fotografien von Cindy Sherman verglichen wurde, konnte sie endlich raus aus ihrem Korsett, konnte dem Lehrer zeigen, welch in fotografisches Talent in ihr schlummerte. Er war begeistert, ermunterte sie weiterzumachen.

Das Ergebnis fiel anders aus, als Lehrer oder Eltern sich das gedacht hatten: Hanna schmiss die Schule hin, ausgerechnet im letzten Schuljahr, Monate vor dem Abitur. Macht man das? Ist das klug? Nein! Sagt das soziale Umfeld. Doch! Sagt die junge Künstlerin. „Wie kannst du nur“, fragt die Umwelt. „Wie kann ich sonst ich selber sein?“ fragt sie zurück.

Sie seufzt.

Der Zeitpunkt war überreif, schon so lange hatte sie das Gefühl, sie brauche all ihre Zeit und Energie zum Fotografieren, zum Gestalten, zum Tüfteln. „Ich mache ja alles selbst, Make-up, Outfit, Frisuren...“

Der Erfolg gab und gibt ihr Recht. Erste Aufträge trudelten ein, irgendwann die Anfrage, eine Fotoserien für eine Geschäftseröffnung zu produzieren. Eine Riesenchance, und die Resonanz spricht für sich. Aber passen Leidenschaft und Geschäft zusammen? Diese Frage stellt sich die junge Künstlerin natürlich auch. „Wenn du es nicht probierst, wirst du es nie wissen“, sagte sie sich irgendwann. Und so fotografiert sie nun mit zwei Seelen in ihrer Brust – privat zur Verwirklichung und professionell für Auftragsarbeiten nach den Vorschlägen und Vorstellungen fremder Leute – mit einer Einschränkung: „Ich möchte immer dahinter stehen, was ist tue.“

Ende gut – alles gut? Nicht ganz. Denn die Zweifler, die wird man als junge Schulabbrecherin so schnell nicht los. Sie sitzen im Ohr und am Küchentisch. „Mach was Richtiges!“, raunen sie. Noch wehrt die Künstlerin sich vehement: „Ich will mir nicht einen Job suchen, damit sie zufrieden sind, wenn mich das nicht glücklich macht.“

Gleichwohl sieht sie auch, dass sie selbst für ihre Kunden nicht nur Talent und Können, sondern auch offiziell erworbenes Wissen vorweisen sollte. Also eine Ausbildung oder ein Studium der Fotografie? Lernen, mit einer Kamera umzugehen etwa? Oder wie man Fotos nachbearbeitet? Aber das weiß sie doch schon alles. „Bei all der Theorie – man muss Ideen haben, die man umsetzen will und kann – und das kann man nicht lernen.“

Allerdings beginnen Ausbildungen immer erst im Herbst. Der Zeitpunkt für einen Start von – irgendwas! - ist vorbei. Dabei wüsste sie inzwischen, was es denn wäre, das sie noch weiterbringen könnte: Eine Ausbildung zur Maskenbildnerin. Die Bewerbungen sind geschrieben, die Daumen ihrer Fans gedrückt, dennoch heißt es nun, bis zum Beginn des nächsten Ausbildungsjahres die Zeit zu nutzen und die Zweifler verstummen zu lassen.

Wo oder wie sieht sie sich in zehn Jahren?
Glücklich im eigenen Studio“, bricht es aus ihr heraus, und dann stockt sie kurz und lacht. „Wobei: Glücklich bin ich ja bereits!“ - Wer kann das schon von sich sagen!




Hanna Thienel – wir werden noch viel von ihr hören und sehen. Eine eigene Webseite gibt es noch nicht, aber ihre Facebook-Seite ist auch für nicht registrierte Besucher öffentlich einsehbar: KLICK