Freitag, 7. August 2015

Asyl - Heitzenacker



Flüchtlingssituation wird auch
in Baden-Baden dramatisch



Es ist absolut dramatisch, was Bürgermeister Michael Geggus gestern verkünden musste: Die Flüchtlingswelle nimmt bald ungeahnte Ausmaße an: Ende 2017 werden in Baden-Baden und den Ortsteilen insgesamt rund 1700 Asylbewerber leben, und nach dem derzeitigen Stand ist die Unterbringung für fast tausend von ihnen noch offen. Aus diesem Grund hat man sich seitens der Verwaltung entschlossen, das Areal der früheren französischen Funkstation im Heitzenacker wieder zu nutzen. Dort steht bereits ein riesiger, lagerhafter Gebäudekomplex, der in den 90iger Jahren bereits genutzt wurde. Bis zu 260 Flüchtlinge waren damals dort unter – laut Arbeitskreis Asyl - teils erbärmlichen Umständen untergebracht, nun sollen es 400 werden.






Bei einer Ortsbesichtigung zeigte sich, dass die Stadt für die Instandsetzung sicher einige Millionen Euro in die Hand nehmen muss: Alles ist und war schon in den 90er Jahren marode.




Christian Kühnel und Sibylle Loeben vom Arbeitskreis Asyl, die die Häuser bereits aus ihrer Flüchtlingsarbeit in den 90er Jahren kennen, berichteten mir diese Woche von den damaligen Zuständen: Marode sanitäre Anlagen, kaputte Heizung, große Schlafsäle und vor allem die Lage! Der lange, völlig unbeleuchtete Weg hinaus ins Grüne nahe der B 500 hat schon damals bei den Flüchtlingen große Ängste ausgelöst, die Ehrenamtlichen können sich auch an Überfälle auf diesem Weg erinnern. 
 



Die Örtlichkeit liegt noch viel weiter außerhalb als die derzeitige Unterkunft in der Westlichen Industriestraße. Der Weg ohne jede Straßenbeleuchtung führt an den Gebäuden der Industriestraße vorbei durch eine ehemalige Baumschule, über das Gelände einer Gärtnerei und weiter regelrecht ins Nirgendwo. Irgendwann endet der Weg, ein rostiges Gitter versperrt den Weg, und dann sieht man auch schon den Gebäudekomplex und ahnt dessen Sanierungsbedarf.









Bürgermeister Geggus ist sich der Problematik dieser Lage sehr wohl bewusst. Es würden mehrere hauptamtliche Sozialarbeiter und Hausmeister eingestellt, versprach er, ein Sicherheitsdienst wird rund um die Uhr nach dem Rechten sehen, außerdem muss wohl über den Einsatz eines Shuttlebusses nachgedacht werden, und für die Freizeitgestaltung soll ein Sportbereich entstehen. Wie heute im Badischen Tagblatt nachzulesen ist, wird im Augenblick  geprüft, ob sich die Gebäude sanieren lassen oder ob man für das Gelände Container anschafft. Einen entsprechenden Grundsatzbeschluss wird die Verwaltung am 21. September dem Hauptausschuss des Gemeinderats vorlegen, sagte Geggus.

Aber er hat keine Wahl, steht mit dem Rücken an der Wand. Er bedauert, dass man sich angesichts der Zahlen nun vom Prinzip der dezentralen Unterbringung in kleinen und mittelgroßen Sammelunterkünften und in Wohnungen für die Anschlussunterbringung verabschieden muss. Wie dramatisch sich die Notlage zuspitzen wird, war vor einem Jahr noch nicht abzusehen. Zu Beginn 2014 lebten rund 200 Flüchtlinge in Baden-Baden, 157 kamen im Laufe des letzten Jahres hinzu, aber so gut wie niemand von ihnen wurde abgeschoben: Nur zwei so genannten „Abgänge“ wurden verzeichnet, so dass Ende des letzten Jahres also 355 Flüchtlinge in Unterkünften der Stadt lebten.

Dann erhöhte sich die Zahl. In den ersten sieben Monaten diesen Jahres kamen – bei neun Abschiebungen - 98 Personen hinzu. Derzeit leben also 444 Asylbewerber in Baden-Baden. Hatte man eigentlich mit einer Zugangsrate von 20 Personen pro Monat kalkuliert, hat das Land Anfang Juli angekündigt, diese Rate auf mindestens 40 pro Monat zu erhöhen. Und damit stößt auch Baden-Baden an seine räumlichen Grenzen.

Im Augenblick werden die Flüchtlinge in 20 Wohneinheiten über das ganze Stadtgebiet von Baden-Baden untergebracht: Die größte Anzahl, nämlich 150 Personen, ist in der westlichen Industriestraße untergebracht, in diesem Jahr folgten weitere Wohnungen und Unterkünfte für bisher insgesamt 160 Menschen (allein 70 von ihnen leben derzeit noch im alten Vincentiushaus, das dankenswerterweise noch bis einschließlich März 2016 genutzt werden darf) .

Ab Oktober können 60 Flüchtlinge in der Schussbachstraße untergebracht werden, so dass man seitens der Stadt hofft, für das laufende Jahr den Raumbedarf abzudecken. Aber schon ab 2016 tut sich eine Unterversorgung auf, und diese Lücke wird schnell immer größer: Selbst wenn gegen den Widerstand der Anwohner die 90 Plätze in Haueneberstein realisiert werden können und in der Aumattstraße 150 Plätze gebaut sind, wird es wohl einen erheblichen Fehlbestand geben, und der wird dann monatlich größer: Nach jetzigem Stand fehlen - falls sich die Flüchtlingssituation nicht noch weiter verschärft - zum Jahresende 2017 rund tausend Unterbringungsplätze.

Vor diesem Hintergrund sieht sich die Stadt gezwungen, die marode ehemalige Unterkunft im Heitzenacker wiederzubeleben und mit 400 Menschen zu belegen.




Auch wird man in die mit 14 Quadratmetern ohnehin schon kleinen Zimmer in den Unterkünften in der Industriestraße, die derzeit mit jeweils zwei Personen belegt sind, ein drittes Bett stellen. Dann stehen jedem Asylbewerber lediglich vier statt bisher sieben Quadratmeter zum Wohnen und Schlafen zur Verfügung. Eine qualvolle Enge, die - meines Erachtens - sicherlich zu Spannungen führen wird.

Vor diesem Hintergrund appelliert die Stadt an alle Haus- und Grundstücksbesitzer, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. „Die Stadt zahlt einen guten Mietpreis, und die Wohnungen und Häuser werden im Anschluss an die Unterbringung sehr gut renoviert zurückgegeben“, betonte Michael Geggus, denn: „Unterkünfte in Zelten und Turnhallen wie anderswo wollen wir nicht.“

Wer der Stadt helfen will und Wohnraum anbieten möchte, wendet sich bitte an
Marc Haase im Fachbereich Bildung und Soziales, Tel. 07221 – 93 1484


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Anmerkung:
Angesichts dieser neuen Zahlen bin ich wohl nicht alleine, wenn mich der Mut, der Elan und die Zuversicht verlässt. 1700 Asylbewerber bis Ende 2017 – lässt sich bei einer so großen Zahl überhaupt noch ehrenamtliche Flüchtlingshilfe leisten? All die Anstrengungen der letzten Monate, die Flüchtlinge bei uns zu integrieren, erscheinen vor solch gewaltigen Zahlen wie ein Tröpfchen auf den heißen Stein, ja eigentlich wie purer Luxus. Ein Jahr lässt sich das Tempo und das tolle, beispielhafte Angebot mit Schulungen, Sprachkursen, Kontaktmöglichkeiten, Hilfen bei der Arbeitssuche sicherlich noch durchhalten, wird es – hoffentlich! - noch genügend Freiwillige geben. Aber was ist dann? Wir müssen uns auf Notzeiten einstellen, zusammenrücken und uns gegenseitig Mut machen. Und wir sollten uns immer vor Augen halten, wie gut es uns geht, gemessen an dem, was die Menschen, die zu uns flüchten, durchgemacht haben. Wir alle müssen uns der Situation stellen, Grundsatzdiskussionen, Grabenkriege und Standortkämpfe begraben und das Problem gemeinsam anpacken. Eine andere Wahl haben wir nicht. Die Flüchtlinge werden kommen, und sie müssen menschenwürdig untergebracht und respektvoll behandelt werden. Das ist ihr Recht und unsere Pflicht.

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